Heiligabend 1946 - Teil 1
Und da war noch das Interview zum Thema …
... der kalte Heiligabend 1946 (Teil 1)
Ein Beitrag unserer Kolumnistin C. Eißing
Auf dieses Interview mit Onkel Franz habe ich mit etwas bangem Gefühl gewartet; hoffentlich würde es nicht zu anstrengend für ihn werden. Eigentlich ist er gar kein 'echter' Onkel, sondern mein lieber Nenn-Onkel und der beste Freund meines verstorbenen Vaters. Obwohl inzwischen 84 Jahre alt, ist er immer noch agil und, wie er selbst sagt, 'fit im Kopf'.
Wir treffen uns in seinem Zimmer im Altenheim.
C: Ich freue mich so dich zu sehen. Wollen wir Kaffee trinken?
F: (lacht) Du trinkst doch gar keinen Kaffee. Ich wette, du hast dir wieder Tee mitgebracht.
C: Das stimmt. Es wäre schön, wenn du etwas über Weihnachten in der Nachkriegszeit erzählen würdest.
F: Nach unserem Telefonat habe ich lange darüber nachgedacht, welcher Heiligabend mir am besten in Erinnerung geblieben ist. Er war vielleicht nicht der schönste, aber einer, den ich nie vergessen werde.
C: Ich höre dir gern zu, aber wenn es dir zu viel wird, dann machen wir eine Pause, versprochen?
F: Versprochen.
Wie du weißt, war am 8.Mai 1945 der Krieg zu Ende, und die halbe Welt lag in Trümmern. Mein Vater war irgendwo an der Ostfront, vermutlich in Russland, und wir wussten nichts von ihm, nicht einmal, ob er noch lebte. Meine Mutter flüchtete mit uns beiden Kindern aus Ostpreußen im Januar oder Februar 1946, als die Ostsee noch tiefgefroren war. Hunger und Kälte und Angst im Nacken. Wie lange wir unterwegs waren, weiß ich nicht mehr. Das Zeitgefühl ging als erstes verloren, und später dann mein kleiner Bruder. Irgendwo im Durcheinander des Flüchtlingstrecks untergegangen, einfach weg, nie wiedergefunden. Darum band Mutter mir ein Seil um das Handgelenk, und wir schleppten uns weiter. Tagelang, wochenlang. Der kleine Handwagen mit unserem bisschen Hab und Gut wollte irgendwann auch nicht mehr, und wir schulterten die Bündel, um sie unterwegs Stück für Stück fallenzulassen. Nur weiter, für Trauer blieb keine Zeit.
Wir wollten ins Rheinland, nach Köln, zu Tante Gerda, Mutters Schwester. In der Nähe von Hamburg fing man uns ab und brachte uns ins Lager, wo wir bis zum Winter blieben. Dann hieß es, dass es einen Zug nach Köln gäbe, und wir flohen erneut, denn die Zustände im Lager waren inzwischen katastrophal. Kaum etwas zu essen, verschmutzte Waschhäuser, lautstarke Streitereien und eine Menge Krankheiten. Nein, wir wollten weg.
C: Habt ihr den Zug erwischt?
F: Du lieber Himmel, das war kein Zug, das war ein Haufen Schrott, die offenen Viehwaggons vollgepackt mit allem was Beine hatte und wir mittendrin. Immer wieder mussten wir raus, weil die Schienen kaputt und die Aufschüttungen marode waren. Tagelang wurde mühsam behelfsmäßig repariert, und wir gingen an den Gleisen entlang und ins Gebüsch, um Essbares zu finden. Dann ging es im Zuckeltempo weiter und wieder ein Halt, wieder eine Behelfsreparatur.
Behelfsmäßig, übergangsweise, notdürftig ... diese Worte würden Deutschland noch eine lange Zeit begleiten. Aber Jeder packte an, sonst wäre es nicht gegangen.
C: Ihr seid wirklich irgendwann in Köln angekommen. Und dann?
F: Schon weit vor der Stadt ging nichts mehr, der Bahnhof war zerbombt, und wir mussten zu Fuß durch den Schnee laufen. Die ganze Stadt lag in Trümmern, bis zum Rhein runter überall Bombenkrater, Schutt und Asche, alle Brücken zerschossen. Nur der Dom stand noch, und dahin schleppten wir uns.
C: Ich habe gelesen, dass zwischen Ende September 1944 und Anfang März 1945 mehr Bomben auf Köln abgeworfen wurden als in den 5 Kriegsjahren zuvor.
F: (stockend) Ja, so sah es auch aus. Am Dom angekommen, brach Mutter zusammen. Es war kurz vor Weihnachten und eiskalt. Der ständige Hunger und die seelische Entkräftung hatten ihr zugesetzt. Mir ging es nicht viel besser. Ich war mit meinen 9 Jahren hoch gewachsen und spindeldürr. Wir hätten gern im berühmten Kölner Dom eine Verschnaufpause eingelegt, jedoch die hohen Türen waren fest verschlossen. Kein freundliches Wort, kein Zuspruch, kein Kerzenlicht; ausgesperrt und verlassen. Es half ja nichts, wir mussten weiter. Überall hockten vermummte Gestalten auf dem frostigen Boden an offenen Feuern, um sich ein wenig zu wärmen oder standen in endlos langen Schlangen vor der Rot-Kreuz-Suppenküche. Nur die bange Hoffnung auf ein Wiedersehen mit ihrer Schwester ließ Mutter weitertaumeln, denn sie kannte den Weg nicht mehr; alles hatte sich verändert. Wo früher Grünflächen waren, lagen riesige Schuttberge und versperrten den Weg. Die Menschen, die wir nach der Straße fragten, schüttelten stumm die Köpfe. Und plötzlich sank Mutter weinend in den Dreck. Wir waren angekommen. Ihr Elternhaus war nur noch eine Ruine, da war nichts und niemand mehr.
C: Oh das tut mir so Leid. Komm, ich drück’ dich mal. Wollen wir eine kleine Pause machen und etwas in den Park gehen?
F: (nickt) Ist alles schon so lange her ... und trotzdem.