Heiligabend 1946 - Teil 2
Und da war noch das Interview zum Thema …
... der kalte Heiligabend 1946 (Teil 2)
Ein Beitrag unserer Kolumnistin C. Eißing
Nach einer kurzen Unterbrechung mit einem Spaziergang an der frischen Luft hatte sich mein Interviewpartner soweit gefasst, dass er seine erlebte Geschichte (siehe Teil 1) fortsetzen konnte.
C: Onkel Franz, ich kann mir kaum vorstellen, wie groß eure Verzweiflung gewesen sein muss. All die Strapazen, die Angst, der Hunger und die Not. Wie ging es weiter? Gab es noch Hoffnung?
F: Wir hatten unbeschreibliches Glück. Anders kann ich es nicht sagen. Aus dem Haus auf der gegenüberliegenden Seite kam eine Frau und lief auf uns zu.
C: Etwa deine Tante Gerda?
F: Nein, das wäre ein Wunder gewesen, und an Wunder glaubte in diesen elenden Zeiten niemand mehr. Zu unserer Rettung eilte Frau Hammerschmidt herbei, die am Fenster gestanden und uns gesehen hatte. Kurzerhand nahm sie uns mit in ihre Küche, und wir bekamen eine heiße Brühe. Du glaubst gar nicht wie gut die dünne Plempe getan hat. Natürlich kannte sie Tante Gerda, und die Frauen fingen an sich ihre Geschichten zu erzählen, während ich mit ihrer Tochter Thea im Wohnzimmer spielte.
C: Thea? Das gibt’s doch nicht!
F: (lacht) Doch, deine Tante Thea habe ich schon als kleiner Junge kennengelernt. Aber lass mich weitererzählen.
Die Frauen verstanden sich auf Anhieb, und es wurde entschieden, dass Mutter und ich bei ihr bleiben durften. Wir wussten vor lauter Dankbarkeit gar nichts zu sagen. Rasch wurden ein paar Möbel verrückt, und aus dem ehemaligen Schlafzimmer wurde unser neues Zuhause. Wunderbar! Ein altes Sofa zum Schlafen für mich ganz allein, ich war glücklich. Vaters Foto stand auf dem Tisch, damit er dabei sein konnte. Frau Hammerschmidt war, genau wie meine Mutter und viele Andere, eine sehr patente Frau und ging mit uns aufs Amt, vor allem wegen der Zuteilung von Lebensmitteln, die generell sehr knapp waren. Ohne Schwarzmarkt lief da gar nichts. Und da kam ich ins Spiel, denn durch meine Größe sah ich um einiges älter aus als ich tatsächlich war. Ich lernte rasch von den Jungen, die in regelrechten Banden unterwegs waren, wie man organisiert, beschafft und auch mal klaut.
C: Aber das war ja kein echtes Klauen. Ich habe gehört, dass man das 'fringsen' nannte, weil in der Silvesterpredigt 1946 der Kölner Erzbischof Josef Kardinal Frings über die 10 Gebote sprach und folgendes äußerte: 'Wir leben in Zeiten, da in der Not auch der Einzelne das wird nehmen dürfen, was er zur Erhaltung seines Lebens und seiner Gesundheit notwendig hat, wenn er es auf andere Weise, durch seine Arbeit oder Bitten, nicht erlangen kann'.
F: (schmunzelt) Das stimmt, aber natürlich nutzte manch einer diese Worte auch schamlos aus um Holz, Kohlen und Lebensmittel vor den Augen der britischen Besatzungsmacht zu stehlen. Unsere Bande zog frühmorgens los, und zuerst wurden die Trümmergrundstücke durchwühlt; Töpfe, Geschirr und dergleichen konnte man immer finden. Auch in den ausgebrannten Geschäften gab es manchmal etwas, das man zum Schwarzmarkt bringen konnte. Ich erinnere mich daran, dass ich Damenunterwäsche aus einem angekohlten Schrank stocherte, die riefen wahre Begeisterungsstürme hervor. Danach ging es immer zu den Güterzügen hinaus, um Briketts zu hamstern, denn die Wohnungen waren zugig und bitterkalt. Und zum Schluss an den Rhein, im angeschwemmten Treibgut lag immer etwas ... und manchmal auch Jemand, der seine Kleidung nicht mehr brauchte, vor allem seine Schuhe, die konnte man gut eintauschen.
C: Ich weiß nicht, ob ich einem solchen Leben gewachsen gewesen wäre.
F: Das wärest du, denn es gab ja keine Alternative. Als junger Mensch kann man erstaunlich viel wegstecken, was erst viel später wieder hochkommt.
C: Das mag sein. Aber jetzt erzähle mir bitte etwas von Heiligabend.
F: (lacht) Das haben wir ja fast vergessen vor lauter Elend. Also das war so: Die Bande war wie immer unterwegs, und diesmal nahm ich Thea mit, die mit ihren blonden Zöpfchen vielleicht bei den Schwarzmarkthändlern Mitleid erwecken würde, schließlich war ja Weihnachten. Wegen der bitteren Kälte machten wir nur eine kurze Tour zum Kohlesammeln und zum Rhein. Und da passierte es. Thea wollte sich die Hände waschen, stolperte und fiel ins Wasser. Ich stapfte ihr hinterher und fischte sie sofort raus, gab ihr meine Jacke, wickelte sie in Vaters alten Schal, und so schnell es ging rannten wir nach Hause. Sie weinte nicht und sprach kein Wort. Frau Hammerschmidt übrigens auch nicht, aber ihr Blick sprach Bände. Thea wurde mit sämtlichen Decken ins Bett gesteckt, während ich schlotternd und schniefend Mutters Strafpredigt erduldete. Stubenarrest bis nach den Feiertagen und bei Dunkelheit gar nicht mehr raus. Schöne Bescherung!
Einen Weihnachtsbaum gab es nicht, dafür wäre auch kein Platz gewesen, aber ein paar Zweige mit Strohsternen lagen auf der Anrichte, gleich neben den Fotos von zwei Männern in Uniform. Und es gab Hühnchen, großartig. Ein Hühnchen für vier hungrige Mäuler. Wenigstens drei Tage lang musste davon gezehrt werden, jedes Fitzelchen wurde von den Knochen gelutscht, bevor sie zurück in den Suppentopf wanderten.
C: Gab es überhaupt Geschenke?
F: Aber natürlich. Ich hatte für Mutter und Frau Hammerschmidt in einem ehemaligen Modegeschäft silberfarbene Bilderrahmen für ihre Fotos gefunden, die sahen richtig echt aus. Und für Thea einen kleinen Stoffhund.
C: Und hast du auch etwas bekommen?
F: Das weiß ich noch genau: eine kratzige Strickmütze von Mutter, das Du-Angebot von Frau Hammerschmidt und von Thea den schönsten rotbackigen Apfel der Welt.
C: Das klingt nach einem sehr harmonischen Heiligabend.
F: (lächelt) Und das Beste kam erst noch: Nachts teilte ich heimlich den Apfel mit Thea, und sie teilte daraufhin bis zu ihrem Tod ihr Leben mit mir.
C: Was für ein unbeschreiblich schönes Geschenk!
Welche Hoffnungen und Erwartungen hattest du als junger Mensch damals?
F: Eigentlich nur den bescheidenen und gleichzeitig größten Wunsch, den jeder Mensch haben sollte: Frieden.