Lissis Brief

Lissis Brief

Und da war noch …

... die Sache mit Lissis Brief

Ein Beitrag unserer Kolumnistin C. Eißing

Vermutlich geht es Jedem so oder so ähnlich.
Zufällig fällt einem etwas in die Finger, und sofort setzt sich eine Reihe von Er­in­ne­rungs­fet­zen in Bewegung, fast wie ein Film. Mir passierte es vor we­ni­gen Tagen; ich war auf der Suche nach etwas ganz Anderem ... und da lag er … Lissis Brief.

Lissi lebt schon lange nicht mehr und wird mir bestimmt verzeihen, dass ich heute von ihrem, nein eher unserem Ge­heim­nis erzähle.

Wir lernten uns vor vielen Jahren beim Gassigehen kennen und freundeten uns rasch an. Die Monate vergingen, und aus sporadischen Treffen wurden feste Zeiten und Rituale, das abendliche Te­le­fo­nat, spontane Besuche am Wo­chen­en­de. Wir wussten um unsere Schwächen und Vorlieben, um Sorgen und Freuden des Alltags. Und wir waren uns einig: So sollte Freundschaft sein.

Nach einem schweren Unfall war ich wo­chen­lang ans Bett gefesselt und langweilte mich sehr. Dass Lissi einen Teil der täglichen Pflege übernahm, war für sie selbstverständlich. Daher bat ich sie irgendwann darum mir zur Ab­len­kung etwas vorzulesen, aber sie hat­te keine Lust. Ein paar Tage später bat ich sie erneut, doch sie hatte Kopf­schmer­zen. Und so ging es mit un­ter­schied­li­chen Aus­re­den weiter, bis sie ir­gend­wann sehr zornig wurde und mich an­schrie, mich undankbar nannte und wüst beschimpfte, ich solle sie doch end­lich in Ruhe lassen mit meinen 'Sch...'büchern, meiner Leserei und über­haupt. Wutentbrannt rauschte sie davon und ließ mich sprachlos zurück.

Tatsächlich hatte ich Zeit genug, um gründlich über diesen Zwischen­fall nach­zu­den­ken. Und als ich die wir­beln­den Ge­dan­ken in meinem Kopf nach und nach besser ordnen konnte, wurde mir plötzlich schlagartig klar, wo das eigentliche Problem lag: Lissi konnte nicht lesen! Das war doch un­glaub­lich! Sie war schließlich be­rufs­tä­tig, ver­sorg­te als Putzfrau meh­re­re Büro­ge­bäu­de mit eigenem Zu­gangs­schlüs­sel. Nein, Autofahren konn­te sie nicht, woll­te sie auch nicht. Ver­reisen? Nein, das ging ja nicht wegen ihres Hündchens. Hatte sie damals et­wa den geplanten Res­tau­rant­besuch nur ab­ge­lehnt, weil sie die Speisekarte nicht lesen konnte? Ein­kaufen? Ja na­tür­lich, das klappte, denn sie kannte die Ver­packungen. Schrift­verkehr? Be­hör­den? Formulare? Viel­leicht half ihr Je­mand beim Aus­fül­len. Ich konnte es ein­fach nicht glau­ben. Wie fand sie sich über­haupt zu­recht im täglichen Leben?

Laut einer aktuellen Studie des Bun­des­bil­dungs­mi­nis­te­ri­ums sind rund 6,2 Millionen Er­wach­se­ne in Deutsch­land funktionale Analphabeten. Der heute korrekte Ausdruck lautet 'ge­ring li­te­ra­li­sier­te Erwachsene'.
Was bedeutet das im Einzelnen?

  •  6,2 Millionen Deutsche zwischen 18 und 64 Jahren können entweder gar nicht oder zumindest einzelne Worte lesen oder schreiben, haben aber große Probleme zu­sam­men­hängende kurze Texte zu ver­stehen.
  •  Jeder zweite funktionale An­al­pha­bet hat Deutsch als Mut­ter­spra­che, der Großteil einen Schul­ab­schluss und mehr als die Hälf­te einen Job.
  •  Berufe, in denen der Anteil funktionaler Analphabeten über­durch­schnitt­lich hoch ist, sind Hilfs­ar­bei­ter auf dem Bau (jeder Zweite) sowie Köche, Maler und Lkw-Fahrer (jeder Vierte).
  •  Erst im Jahr 2015 hat das Bun­des­bil­dungs­mi­nis­te­rium die Ini­tia­ti­ve für 'Alphabetisierung und Grund­bil­dung' ausgerufen, um die Lese- und Schreib­kom­pe­ten­zen von Er­wach­sen in Deutsch­land bis 2026 deutlich zu ver­bes­sern. Dazu wur­den zahl­rei­che Bil­dungs­an­ge­bote und Selbst­lern­mög­lich­kei­ten ge­schaf­fen.

Am folgenden Morgen rief ich sie an und versuchte eine vorsichtige An­nä­her­­ung an das heikle Thema. Sie schämte sich unend­lich und gab zu, dass Dinge des all­täg­li­chen Le­bens wie Be­die­nungs­an­lei­tun­gen, Bei­pack­zet­tel oder Be­hör­den­schrei­ben na­he­zu un­über­wind­li­che Her­aus­for­der­un­gen sei­en. Die ständige Unsicherheit machte ihr sehr zu schaffen, sodass sie sich nach Wochen guten Zuredens und Be­stär­kens entschloss den un­er­träg­li­chen Zustand zu ändern, in­dem sie mittels ALFA-Telefon (0800-53 33 44 55) ano­nym mit einer Hilfs­stel­le Kontakt aufnahm.

Unsere Freundschaft war dennoch nicht mehr dieselbe. Nach und nach ging Jede eigene Wege, und schließlich verlor man sich aus den Augen. Bis ich eines Tages ein Briefchen von ihr unter dem Scheibenwischer fand.
Da wusste ich, dass sie auf einem guten Weg war.

Unsere Kolumnistin

Claudia Eißing


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